Imam Rejhan Neziri
Organspende im Islam (Handout)
Die Transplantation von Organen, vor allem die Autotransplantation der Zähne, der Knochen, der Haut etc., hat schon im alten Ägypten begonnen. Bei den alten Römern und Griechen wurde sie dann weiterentwickelt. In der islamischen Welt hat auch die Transplantation von Tierknochen relativ früh stattgefunden und seitdem gibt es auch die ersten theologischen Meinungen diesbezüglich, wie z.B. bei den Werken von Imam Schafi’i (v. 820), Schirbini (v. 1570), al-Fatawa al-Hindiyya (1664-1672) etc.
In den islamwissenschaftlichen Kreisen wird dieses Thema heute auf zwei Ebenen diskutiert: A) Glaubens- und Eschatologische Ebene und B) Juristische Ebene.
A) Glaubens- und Eschatologische Ebene
1. Wiederauferstehung der Organe
Bei der Transplantation von Organen wird nicht unterschieden, ob das Organ von einem Muslim, Nichtmuslim oder einem Muslim mit bösem Charakter stammt.
Es stellt sich die Frage, wem werden diese Organe bei der Wiederauferstehung im Jenseits gehören und dementsprechend wohin gehen sie? Ins Paradies oder in die Hölle? Was wäre gerecht?
Antwort: Die Auferstehung im Jenseits wird, der Ahlus-Sunna wal-Dschama’ah nach, seelisch und körperlich stattfinden und auch die Organe, die später im Diesseits entnommen und/oder eingepflanzt wurden, werden zum ersten Körper gehören und dementsprechend im Paradies mit anderen Organen zusammen belohnt oder in der Hölle bestraft werden.
Daher beeinträchtigt dieser Zweifel bzw. Frage nicht die Erlaubnis der Transplantation.
2. Verantwortung der Organe
Diese hat mit der vorherigen Frage zu tun. Organe eines guten Muslims werden beispielsweise einer Person gespendet, die Haram und Sünde begeht. Nun, gegenüber welcher Person werden sich diese Organe im Jenseits verantworten müssen?
Antwort: Organe werden dem Körper der ersten Person, sprich dem Stammkörper, gehören. Es werden sich nicht die Organe verantworten müssen, sondern die Person selbst.
3. Zeugenschaft der Organe im Jenseits
Im Qur’an wird gesagt, dass im Jenseits die Organe von bösen Menschen gegen sie Zeugenschaft ablegen werden. So z.B. lesen wir in der Sura Fussilat (41), Vers 20: "Wenn sie dann dort angekommen sind, legen ihr Gehör, ihre Augen und ihre Häute gegen sie Zeugnis ab über das, was sie zu tun pflegten." Hier wird ebenfalls die Frage gestellt: Gegen welche Person werden die transplantierten Organe Zeugenschaft ablegen?
Antwort: Manchen muslimischen Gelehrten nach sind diese Verse im übertragenen Sinn zu verstehen. Das Ziel dabei sei, die Ernsthaftigkeit und die Bedeutung des Jüngsten Gerichts zu betonen. Andere wiederum sagen, dass diese Verse wortwörtlich zu verstehen sind, denn Allah wird diesen Organen im Jenseits diese Möglichkeit geben. Auch hier betonen die muslimischen Gelehrten, dass es überhaupt keine Frage ist, ob die Organspende im Diesseits erlaubt ist oder nicht, unabhängig davon gegen wen die Organe im Jenseits Zeugenschaft ablegen.
4. Übertragung des Charakters des Organspenders
Ein weiterer Zweifel diesbezüglich ist, dass über die Organspende auch Charaktermerkmale übertragen werden. Schlimm wäre dabei, wenn diese Organe von einem Atheisten zu einem Gläubigen transplantiert werden oder von einem mit schlechtem Charakter auf jemanden, der ein guter und religiöser Mensch ist.
Antwort: die Organe selbst tragen keine ethischen oder spirituellen Merkmale in sich. Der Glaube, Ideen, Gefühle etc. sind Teil der gesamten inneren und spirituellen Welt des Menschen und nicht Teil der biologischen Organe. Alle Organe des Menschen sind in den Diensten der Seele des Menschen, seiner Person.
5. Religiöse Verantwortung
Der letzte Zweifel zu diesem Thema wäre noch folgende Frage: wenn ein guter Muslim seine Organe einem Atheisten oder einem Menschen mit bösem Charakter spendet, wird er ihnen somit etwa nicht geholfen haben, dass sie weiterhin im Unglauben oder bei diesem bösen Charakter bleiben und somit ihre Bosheit verlängern? Der Islam aber verlangt von uns das Gute zu gebieten und das Böse zu verbieten (al-Amr bi’l-Ma’ruf wan-Nahy ani’l-Munkar).
Antwort: Die Organspende ist in erster Linie eine medizinische Behandlung und ein Versuch, kranke Menschen zu heilen und Menschenleben zu retten. Medizinische Hilfe zu verlangen ist ein Grundrecht, gleichzeitig eine Pflicht für die Gesunden. Wenn es um Grundrechte und Grundpflichten geht, wird der islamischen Lehre nach, kein Unterschied zwischen den Gläubigen und Ungläubigen oder zwischen Muslimen mit gutem oder schlechtem Charakter gemacht. Wenn wir uns nur in Erinnerung bringen, dass Allah alle seine Geschöpfe am Leben hält und für sie sorgt, egal ob sie gläubig sind oder nicht, dann bleibt uns nichts mehr auf dem Wege, als uns und allen Menschen Sorge zu tragen. Auf der anderen Seite, ein Gläubiger kann während seines Lebens ein Ungläubiger werden und umgekehrt; ein böser Mensch kann sich ebenfalls rechtleiten lassen. Ein letzter Punkt noch: die medizinische Behandlung und somit auch die Organspende verlängert das Leben der Kranken nicht, sondern versucht sie zu heilen. Dies ist ein Grundrecht des Kranken und eine Grundpflicht des gesunden Menschen.
B) Juristische Ebene
Die häufigsten Fragen und Zweifel in der islamischen Jurisprudenz bezüglich der Organspende sind die folgenden:
- Hat der Mensch das Recht, mit seinem Körper beliebig umzugehen? Ist er der Besitzer seines Körpers und Seins?
- Ist es keine Verletzung der Grundrechte des Menschen und keine Straftat, die Organe des Verstorbenen, ohne seine vorherige Zustimmung oder die Zustimmung seiner Familienangehörigen, zu entnehmen?
- Welchen juristischen Wert hat eine solche Zustimmung?
- Ist es keine Herabwürdigung und Respektlosigkeit gegenüber dem Verstorbenen, seine Organe zu entnehmen?
- Was kann man über den Missbrauch der Organe sagen, falls man damit Geschäfte führt?
In der frühen islamischen Zeit wurden diese Fragen nicht gestellt, weil die Organspende in dieser Form nicht möglich und nicht bekannt war. Aber der Islam hat ein paar Grundprinzipien, welche auch in diesem Bereich sehr behilflich sein könnten. Nachfolgend diese Grundprinzipien und Regeln:
Das Prinzip der Darura (Notwendigkeit): Häufig wird es beschrieben als „Not kennt kein Verbot“. Das Prinzip der Darura rechtfertigt das Übertreten fast aller religiösen Regeln in Zwangslagen. Dem Schutz des Lebens kommt hierbei eine besonders starke Bedeutung zu. Nach Sicht der Gutachterräte stellt die Organ- und Gewebespende in dieser Situation eine Notwendigkeit dar und ist dann erlaubt, wenn alle anderen medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Das Prinzip der Wahl zwischen zwei Übeln: Dabei wählt man die leichtere oder die weniger schadende Variante
Die Organspende ist ein Akt der Nächstenliebe: Der islamischen Lehre nach geniesst der Mensch seine körperliche und seelische Unversehrtheit, während seines Lebens, aber auch nach seinem Tod. Der Prophet Muhammed a.s. hat gesagt: „Das Brechen der Knochen eines Verstorbenen ist wie das Brechen der Knochen eines Lebenden.“ (Abu Dawud)
Aus islamischer Sicht kann die Organ- und Gewebespende als ein wichtiges Zeichen der menschlichen Solidarität verstanden werden. Dabei sollte dieser Akt aus einem Gefühl der Nächstenliebe entstehen. Die Gutachterräte sprechen sich hierbei strikt gegen eine Organspende zu Handelszwecken aus.
Arten des Organspendens:
Aus einem Verstorbenen. Der Mensch geniesst einen hohen Wert unter den Geschöpfen Allahs, lebend oder tot. In der Notwendigkeit und mit dem Ziel, jemanden zu heilen, wurde in verschiedenen Gutachterräten (Fatwa-Rat) die Erlaubnis für Organspenden erstellt. So z.B. der Hohe Rat für religiöse Angelegenheiten bei der Türkischen Diyanet (03.03.1980, Entscheidung Nr. 396/13), der Fatwa Rat von Kuwait (24.12.1979, Entscheidung Nr. 132/79), Fikh Akademie der Islamischen Weltunion (Rabita…) in Saudi-Arabien, Fatwa Rat von al-Az’har sowie die Fikh Akademie der Organisation der Islamischen Konferenz (11.02.1988, Entscheidung Nr. 4/1) haben sich für eine Organspende geäussert, unter folgenden sechs Bedingungen:
1. Notwendigkeit, wenn es keine Alternative gibt.
2. Es soll eine starke Meinung von Fachleuten geben, dass sich der Patient mit dieser Behandlung erholen wird.
3. Es soll die Zustimmung des Verstorbenen, vor seinem Tod (Patientenverfügung), oder seiner Familienangehörigen, nach seinem Tod, vorliegen.
4. Feststellung des medizinischen und juristischen Todes.
5. Organe dürfen nicht gegen Geld oder irgendeinen Vorteil abgegeben («gespendet») werden.
6. Der Empfänger soll der Organtransplantation zugestimmt haben.
Aus einem Lebenden (wie z. B. Nieren, Leber etc.). Dagegen gibt es weniger Widerstand. Auch hier geht man aus der Lage der Notwendigkeit und Behandlung des Kranken aus. Dies ist ebenfalls möglich unter den folgenden sechs Bedingungen:
1. Notwendigkeit
2. Die Erlaubnis und Zustimmung des Spenders
3. Die Entnahme des Organs beeinträchtigt nicht das Leben und die Gesundheit des Spenders und soll durch ein ärztliches Gutachten dokumentiert werden.
4. Feste Überzeugung von Experten, dass diese Operation und Behandlung erfolgreich sein werden.
5. Die Verfügbarkeit angemessener medizinischer und technischer Voraussetzungen
6. Die Organspende erfolgt nicht gegen eine Gebühr oder einen bestimmten Vorteil. Wenn aber das Leben des Kranken in Gefahr steht, wenn diese Transplantation nicht durchgeführt wird, dann darf der Empfänger ein Organ kaufen.
Aus eigenem Körper (wie z.B. Haare, Gewebe für Kreuzband etc.). Auch hier gelten zwei Bedingungen:
1. Das Nutzen soll grösser sein als der Schaden
2. Es soll die Beseitigung eines biologischen oder psychologischen Defektes oder Unbehagens bezwecken, unter welchem die Person leidet.
Aus den Tieren. Während die Transplantation von Tieren, deren Fleisch halal ist, als zulässig gilt, sind die Organtransplantationen von verbotenen Tieren, wie von Schweinen, umstritten.
Wenn es jedoch eine zwingende Situation gibt und wenn es sich um ein Gesundheitsproblem handelt, welches das Leben beeinträchtigt, und wenn kein Organ aus einem anderen Stoff hergestellt werden kann, dann schadet die Verwendung eines Schweineorgans nicht.
Fazit
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Organ- und Gewebespende nur im Bedarfsfall und als letztes Mittel als zulässig angesehen werden könne, um das Leben eines Menschen zu retten. Dies aufgrund des Koranprinzips: "wer ein menschliches Wesen am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält." (al-Maida, 5:32)
Wenn es notwendig ist, ist es vorzuziehen, mit einem gespendeten Organ zu leben, anstatt zu sterben. Das Leben des Menschen hat den höchsten Vorzug.
In einem Hadith sagt unser Prophet s.a.w.s., dass jede Krankheit geheilt werden wird, ausser Altwerden und Tod.
Dementsprechend sollte der Gedanke, dass auch Organ- und Gewebetransplantation im Rahmen der Einhaltung religiöser Grundsätze behandelt werden kann, immer lebendig bleiben. Denn wenn sich alle Studien und Forschungen nur auf die Transplantation konzentrieren, werden natürlich die Ausstiegswege ausser der Transplantation blockiert und keine andere Behandlungsform gefunden.
Literatur:
Ali Kaya, Güncel Fıkhi Konular, Bursa 2017.
Hayrettin Karaman, İslâmın Işığında Günün Meseleleri, Istanbul 1988.
İrfan İnce, "Organ Nakli", İslam Ansiklopedisi, TDV, Istanbul 2007, Vol. 33.
Thomas Eich (Her.), Moderne Medizin und Islamische Ethik – Biowissenschaften in der muslimischen Rechtstradition, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2008.